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Part I: Die Welt ist hart, aber ungerecht
Es ist Sonntag, der 22.April 2007, irgendwann vorm Aufstehen. Oschersleben liegt tief schlummernd im Bett und dreht sich lieber noch mal um. Einfach noch zu früh, ein müdes Auge auf den heraufziehenden Tag zu werfen. Nur ein liebenswerter schweizerischer Nachtwächter mit einer grünschwarzen Latzhose und kleiner Harry Potter Brille auf der Nase zieht einsam seine Bahnen durch die menschenleeren Gassen downtown Oschersleben. Unter seinem wehenden Gewand trägt er ein großes Herz und einen Bauchladen mit der Aufschrift „Timos Racingzubehör“. Noch immer ist er auf der Suche nach einer funktionierenden Leuchtstoffröhre und passenden Adaptern, um einem norddeutschen Lichtvergessdepp mit Schweizer Präzision zu erleuchten. Erst als er durch seine entspiegelte Gleitsichtbrille kleine helle Flecken am dunklen Nachtfirmament entdeckt, lässt auch er es für heute gut sein. Timo’s Nase wittert von Osten einen Geruchscocktail aus frisch gebrühtem Kaffee, verbranntem Benzin und gerade geschlüpftem Haftkautschuk. Ihn zieht es zurück, zurück ins Lager der aufzündenden Glücksjäger vor den Toren der Stadt, wo noch gespannte Ruhe herrscht.
Die riesigen, ja geradezu monumentalen antiken Waschthermen, die sich kathedralengleich über die Wohnwagen- und Transporterbehausungen erheben, sind menschenleer. Nicht umsonst nennt man Oschersleben schließlich die Perle der Reinlichkeit. Eine Homage an seine hervorragenden Tempel der Körperpflege. Keiner der fünfundvierzig frisch geputzten, beigefarbenen Keramag Waschtische ist zu dieser Zeit besetzt. Kein fies abgetrenntes Barthaar, kein Zahnpastatropfen stört die kunstvolle Reinheit dieser für 15 Euro erkauften hohen Baukunst im Namen von Villery&Boch. Keine Klotür verhindert den Blick auf den Reihen-Zwölfzylinder im Old School Ideal-Standard Saugdesign. Lautlose Stille wabert durch die Gänge.
Immer mehr Sonnenstrahlen robben sich am Horizont entlang und bringen zarte Lichteffekte ins Dunkle der vergangenen Nacht. Hermine, liebreizende Gefährtin unseres Schweizer Freundes, hat schon Kaffee aufgesetzt und das große Süssigkeitenglas für kleine Gäste vor die Tür gestellt. Direkt dahinter, in einem kleinen einachsigen Hobby-Wohnwagen, der seit nunmehr drei Jahren mit geklebter linker Seitenscheibe durch Europa gezerrt wird, nimmt ein etwas zu lang geratener Blonder mit kleinem Bauchansatz Witterung auf. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Werner Gnade. Seine Familie schläft leicht atmend in der anderen Ecke des treuen Hobby, selbst die kleine Tochter hat irgendwann Ruhe gegeben, sich augenrollend an Mama angekuschelt und die Decke wie eine Große bis tief über ihren kleinen Kopf gezogen. Papa beobachtet die beiden schon eine Weile, schlafen kann er eh schon lange nicht mehr. Seltsam, konnte er noch nie, wenn etwas besonderes anstand. Heute war es nicht anders. Lange bevor der allererste Wecker irgendwo in den engen Gängen zwischen den Behausungen auf sich aufmerksam machte, lag Werner, Aufzünder aus Leidenschaft, völlig wach in seinem Bett. Kein drehen und wälzen half, Schlaf war auch in der hintersten Ecke der Nachtstätte nicht mehr zu finden. Er war froh, als endlich erste schemenhafte Geräusche durch die viel zu dünne Wohnwagentür drangen. Langsam aber unausweichlich wich die nächtliche Ruhe vor dem neuen Tag zurück. Hier und da hörte man ein verschlafenes „Morgen“, Moin“ oder auch „Gryzi“ in bestem Emil-schwyzerisch. Werner konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Diese Schweizer haben einen wahrlich lustigen alemannischen Dialekt. Er fragte sich, wie so ein Schweizer wohl klingt, wenn er mal richtig sauer ist und vor Wut am liebsten ein paar Ricolas zerbeißen würde. Irgendwann, das Fahrerlager war längst taghell erleuchtet, nahm sich auch unser Aufzünder ein Herz und griff sich seinen Kulturbeutel. Die Nacht war endgültig vorbei, als ihn die brutale Realität der unterirdisch schlechten, eigentlich nicht vorhandenen Waschbutze einholte.
Werner war müde. Irgendwie gerädert. Das ging ihm alles zu schnell. Sein erstes Event nach der Speedweek war anders geplant. Das lockere Knochenausschütteln war spätestens nach dem Zeittraining zu Ende. Ein zweiter Startplatz weckte Begehrlichkeiten. Klar sind wir hier nur zum Spaß, aber so ein Sieg wäre schon was. Gabs schließlich noch nie in der Rennhistorie von Nr45. Aus Spaß wurde innerlich viel zu viel Ernst. Auch wenn sich Werner äußerlich nix anmerken ließ, er war nervös, hatte irgendwie Angst vor sich selbst. Warum eigentlich? Heute sollte der Kawamann niedergerungen werden, der Kawamann, der am Vortag eine hohe 34er Zeit vorgelegt hatte. Zwar keine Fabelzeit, wenn man die völlig verstrahlten IDMler berücksichtigte, aber in der Nase bohren war was anderes. Die Latte hing höher als dem kleinen Hobby-Hochspringer lieb war. Sie lag verdammt nah an seiner persönlichen Besthöhe, schließlich hatte Werner die 33er bisher immer gerissen. Nun gut, sei es, wie es ist, erst mal frühstücken, dann wird alles gut.
Während der eine oder andere Nutella-Toast zur Nervenberuhigung genussvoll verschlungen wurde, begann der erste Turn ohne unseren nervösen Angaser. War ihm nur recht, fühlte er sich eh noch nicht bereit für die Hatz. Doch was war da los? Viel zu früh verstummten die bienenähnlichen Geräusche von vorbeihetzenden Boliden. Es musste rot sein. Der Boxenfunk schwieg. Irgendwann wurde der Schwarm wieder losgelassen. Werner schnappte sich ein Fahrrad und rollte ein wenig ziellos durch die Behausungen der Zünder. Eine kleine Runde als stiller Beobachter des regen Treibens half bisher immer, um die persönliche Ruhe zu finden. Gerade, als sich das Chaos im Kopf zu sortieren begann, kam der Lumpensammler vorbei. Eine eigentlich recht wenig zerschraddelte ZX10 wurde vom Schlachtfeld zurück gebracht. Leider ohne Reiter, meist ein schlechtes Zeichen. Das Heck zierte die #33. Werner sinnierte über diese alberne Zahl. Die 33 sollte dieses Jahr fallen, aber doch nicht so. Irgendwie fand er diesen Gedanken bekloppt, wurde er langsam völlig irre? Was bitte hatte diese Kawa mit seinem 33er Auftrag zu tun??? Irgendwie kam ihm das Heck bekannt vor. Ihm lief es heiß und kalt den Rücken runter. Ein Blick auf die Zeitenliste brachte Gewissheit. Diese verdammte 33 gehörte keinem anderen, als dem Sieger des Samstagsrennen. Sie gehörte Nico, den er erst am Tag zuvor in der Startaufstellung kennengelernt hatte. Und jetzt? Nur wenige Stunden später war Nico’s Bolide krank und dem Fahrer würde es wohl nicht besser gehen. Werner hoffte, dass er nur einen gebrochenen Fingernagel oder ähnliches hatte, der Boxenfunk ließ aber nix Gutes verlauten: „Ungebremst in die Reifenstapel“, „Ist liegen geblieben“, „Hat noch versucht, was zu retten“, „Krankenwagen ist raus“... Werner dachte unweigerlich an Brünn. Wie würde es Nico wohl gerade gehen? Würde er auch kurzatmig auf die Decke des Krankenmobils starren wie er damals 2005? Was für eine Scheiße. Musste es wirklich jedes Wochenende einen erwischen? Was zur Hölle hatte Nico getan, dass ihm sowas passierte? Werner bekam keine Antwort, er war traurig und in diesem Augenblick mehrere Milchstraßen entfernt von albernen Zahlen, die nichts, aber auch gar nichts bedeuteten...