Ich muss handeln, jetzt. Ich habe einen Déjà-vu. In genau dieser Situation war ich schon einmal. „Und jetzt brems, aber nicht zuviel, und dann schaust du ganz nach rechts in die Kurve rein und, wehe, wehe, du versaust das wieder“, ich gebe mir selbst Befehle. Diese Situation erfordert absolute Präzision. Ich gehe rechts an ihm vorbei und lenke auf der Bremse ein, um diese dann kurz vor der Bodenwelle sanft zu lösen. Ich bin durch. Wenn ich Zeit gehabt hätte, dann hätte ich mich jetzt gefragt, warum das nicht gleich so hätte gehen können. Ich hatte aber keine Zeit. „Und jetzt lass ihn bloß nicht wieder vorbei, wer weiß, ob du jemals wieder durchkommst“. Dennoch rechne ich damit, dass er irgendwann wieder auftaucht. Mein Laptimer quittiert den Dienst. Low Battery. Wenn ich Zeit gehabt hätte, dann hätte ich jetzt genörgelt, dass das dumme Ding genau jetzt ausgehen muss, wo ich wirklich schnell fahre. Aber ich hatte keine Zeit. Meine Zeit war mit Gashand durchziehen, nicht zu langsam in die Kurven fahren und schnell wieder raus komplett ausgefüllt. Die zu umfahrenden Hindernisse waren dabei Nebenschauplätze. Keine BMW zog mehr an mir vorbei. Ich hatte falsch gerechnet. Es war also doch kein fliegender Holländer. Ich hatte ihn abgehängt.
Zufrieden mit mir selbst und etwas enttäuscht, dass der Menschheit die Aufzeichnung meiner Zeiten vorenthalten bleiben sollte, schaute ich mir die Rennen an. Dann fuhr ich nochmal raus. Wie immer war der letzte Turn des Tages der Haltungsnote und „schön fahren“ vorbehalten. Mochte als Zeit dabei rauskommen, was wollte. Es ist freies Fahren und kaum noch etwas los. Also übe ich einsam und allein Einlenken und Linie halten. Und konzentriere mich darauf, schön nah an die Curbs zu fahren. Bis mir am Ende der Hasseröder Kurve alle Räder gleichzeitig wegrutschen. Das Herz rutscht in die Hose. Der rechte Fuß rutscht von der Raste und hängt in der Luft.

Bei diesem Herzinfarkt sollte es nicht bleiben. Als ich vor unserem Anhänger parkte, dauerte es nicht lange, bis mich besagter schneller Fahrer nach meinem linken Sturzpad fragte. „Hääh?“ sag ich und sehe es erst gar nicht. Natürlich sehe ich es auch nicht. Es ist ja weg. „Dann ist das wohl gerade eben abgeflogen, als das so gewackelt hat“: „Nein“, entgegnet er, “das war heute Mittag schon weg. Ich wollte dich nur nicht aus dem Konzept bringen, deswegen sage ich es jetzt erst. Es hält ja noch, aber allzu lange so bleiben sollte es nicht.“ In meinem Kopf: „Allzu lange so bleiben? Ich muss noch in Brünn fahren, und mir ist das Pad samt Kopf der Motorhalteschraube abgeflogen. Der ist lustig.“ Ich sage: „Danke für den Hinweis, war mir nicht aufgefallen. Gestern war es noch dran“ Da habe ich die Suzinette wohl einmal zu oft auf die linke Seite gelegt. Zumindest ist der Kopf schön gerade abgeschert und nichts verbogen, aber bei dem Gedanken, dass ich das Ding auf die Strecke geschmissen habe, wird mir ganz mulmig. Hoffentlich hat keiner was abbekommen…Meine originalen Motorhalteschrauben liegen sicher und trocken zuhause, also muss ich wohl oder übel so nach Brünn. Eher übel, denn wohl ist mir dabei nicht. Hoffentlich lässt sich dafür noch eine Lösung finden.
Bevor die Zeitennahme abgebaut wird, will ich nochmal die heutige Bestzeit erfragen. „Nein, das kostet Geld“, sagt die Verwaltungsfee, als ich nach einer Zeitenauskunft frage. „Hm, ach dann ist es nicht so wichtig“, meine ich. Dann habe ich eben nur das Gefühl, dass ich schnell bin. Plan B ist, auf dem letzten Ausdruck nach dem fliegenden Emsländer zu fahnden. Irgendwas in der Region wird es schon gewesen sein. Als ich vor dem Ausdruck stehe, steht links auf einmal der Emsländer neben mir. Er schaut mich an und fragt: „Bist du Andrea?“ Sofort sticht das schlechte Gewissen…war da was knapp, was hab ich verbrochen??? Vorsichtig antworte ich „Ja?“. „ANDREA, so mit große Buchstaben hintendrauf?“ Bestimmteres „Ja.“ „Oh, du fährst richtig schön, ich bin mal hinterher gefahren (ich denke, „weiß ich“, sage aber nichts) und die Linie, die ist richtig gut.“ Meine Ohren werden rot. „Hm, ja, danke,“ weiter komme ich nicht. Er redet weiter „nur kannst du noch viel schneller durch die Kurven fahren“. (ich denke „ja, aber du auch“) „Oh“, sage ich „ich habe dich doch eben überholt,…“ Bevor ich auch nur ein Wort mehr herausbekomme, meint er schon „ja, da hab ich langsam gemacht und bin noch ein bisschen gerollt.“ „A-ha. Ok. Gerollt. Soso“, purzelt mir durch den Kopf glauben kann ich das nicht ganz. „Wer bist du denn?“ frage ich und tippe auf den nächstbesten BMW-Fahrer mit einer 1:56, „der?“. „Nein“, er zeigt auf einen Namen etwa zehn Fahrer darüber, bei den 1:54ern und 1:55ern. „Oh. So schnell?“ Dann ist er auch schon weg. Krass. Ich habe kaum bemerkt, dass Henning sich daneben gestellt hat. „Ich hab den eben voll versägt“, raune ich im zu. „Guck mal, wie schnell der gefahren ist.“ Henning liest und applaudiert. „Schade nur, dass ich nie wissen werde, wie schnell ich jetzt eigentlich war.“ „Wieso?“ „Ja, die wollen Geld für das Zeit vorlesen.“ „Ja, aber wieso schaust du nicht auf dem Monitor??“ „Monitor? Ich denk, das sind nur Rennzeiten.“ Ich drehe den Kopf und da steht sie.
1:53:67
Unglaublich, wie schnell man fahren kann, wenn man einfach mal schnell fährt.
Heute Abend gibt es nach einem fiesen Regenschauer noch eine leckere, dicke Belohnungspizza im Pizza Haus. Und morgen, morgen geht es nach Brünn. Mit einer defekten Motorhalteschraube.